Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen 1931  
Nachstehende Richtlinien wurden Anfang 1931 vom Reichsgesundheitsrat nach Benehmen mit dem Reichsjustizministerium aufgestellt und dann vom Reichsministerium des Innern den Landesregierungen und von diesen den Bezirksärzten und -ämtern zugeleitet.
Die Richtlinien waren bis zum Kriesende gültig. Der 1947 anläßlich der Nürnberger Prozesse aufgestellte Nuremberg Code war insofern keine Neuerfindung sondern basierte weitgehend auf den bis Kriegsende gültigen Richtlinien.
Beiden voraus gingen die 1900 verfassten Anweisungen an die Krankenanstalten.
Alle zusammen gelten als Vorläufer der dann internationalen Deklaration von Helsinki 1964, letztes Update: 2013

1. Die ärztliche Wissenschaft kann, wenn sie nicht zum Stillstand kommen soll, nicht darauf verzichten, in geeigneten Fällen eine Heilbehandlung mit neuen, noch nicht ausreichend erprobten Mitteln und Verfahren einzuleiten. Ebenso wenig kann sie wissenschaftliche Versuche am Menschen als solche völlig entbehren, da sonst Fortschritte in der Erkennung, der Heilung und der Verhütung von Erkrankungen gehemmt oder sogar ausgeschlossen würden.
Den hiernach dem Arzte einzuräumenden Rechten steht die besondere Pflicht des Arztes gegenüber, sich der grossen Verantwortung für Leben und Gesundheit jedes einzelnen, den er neuartig behandelt oder an dem er einen Versuch vornimmt, stets bewusst zu bleiben.
2. Unter neuartiger Heilbehandlung im Sinne dieser Richtlinien sind Eingriffe und Behandlungsweisen am Menschen zu verstehen, die der Heilbehandlung dienen, also in einem bestimmten einzelnen Behandlungsfall zur Erkennung, Heilung oder Verhütung einer Krankheit oder eines Leidens oder zur Beseitigung eines körperlichen Mangels vorgenommen werden, obwohl ihre Auswirkungen und Folgen auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht ausreichend zu übersehen sind.
3. Unter wissenschaftlichen Versuchen im Sinne dieser Richtlinien sind Eingriffe und Behandlungsweisen am Menschen zu verstehen, die zu Forschungszwecken vorgenommen werden, ohne der Heilbehandlung im einzelnen Falle zu dienen, und deren Auswirkungen und Folgen auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht ausreichend zu übersehen sind.
4. Jede neuartige Heilbehandlung muss in ihrer Begründung und ihrer Durchführung mit den Grundsätzen der ärztlichen Ethik und den Regeln der ärztlichen Kunst und Wissenschaft im Einklang stehen.
Stets ist sorgfältig zu prüfen und abzuwägen, ob die Schäden, die etwa entstehen können, zu dem zu erwartenden Nutzen im richtigen Verhältnis stehen.
Eine neuartige Heilbehandlung darf nur vorgenommen werden, wenn sie vorher, soweit möglich, im Tierversuch geprüft worden ist.
5. Eine neuartige Heilbehandlung darf nur vorgenommen werden, nachdem die betreffende Person oder ihr gesetzlicher Vertreter auf Grund einer vorangegangenen zweckentsprechenden Belehrung sich in unzweideutiger Weise mit der Vornahme einverstanden erklärt hat.
Fehlt die Einwilligung, so darf eine neuartige Heilbehandlung nur dann eingeleitet werden, wenn es sich um eine unaufschiebbare Massnahme zur Erhaltung des Lebens oder zur Verhütung schwerer Gesundheitsschädigung handelt und eine vorherige Einholung der Einwilligung nach Lage der Verhältnisse nicht möglich war.
6. Die Frage der Anwendung einer neuartigen Heilbehandlung ist mit ganz besonderer Sorgfalt zuprüfen, wenn es sich um Kinder und jugendliche Personen unter 18 Jahren handelt.
7. Die ärztliche Ethik verwirft jede Ausnutzung der sozialen Notlage für die Vornahme einer neuartigen Heilbehandlung.
8. Bei neuartiger Heilbehandlung mit lebenden Mikroorganismen, insbesondere mit lebenden Krankheitserregern, ist erhöhte Vorsicht geboten. Sie ist nur dann als zulässig zu erachten, wenn eine relative Unschädlichkeit des Verfahrens anzunehmen und auf andere Weise die Erzielung eines entsprechenden Nutzens unter den gegebenen Verhältnissen nicht zu erwarten ist.
9. In Kliniken, in Polikliniken, in Krankenanstalten oder in sonstigen Anstalten zur Krankenbehandlung und Krankenfürsorge darf eine neuartige Heilbehandlung nur vom leitenden Arzt selbst oder in seinem ausdrücklichen Auftrag und unter seiner vollen Verantwortung von einem anderen Arzt ausgeführt werden.
10. Über jede neuartige Heilbehandlung ist eine Aufzeichnung zu fertigen, aus der der Zweck der Massnahme, ihre Begründung und die Art ihrer Durchführung ersichtlich sind. Insbesondere muss auch ein Vermerk darüber vorhanden sein, dass die betreffende Person oder erforderlichenfalls ihr gesetzlicher Vertreter vorher zweckentsprechend belehrt worden ist und die Zustimmung gegeben hat.
Ist bei fehlender Einwilligung eine Heilbehandlung unter den Voraussetzungen von Nr. 5 Abs. 2 vorgenommen worden, so muss der Vermerk diese Voraussetzungen eingehend darlegen.
11. Die Veröffentlichung der Ergebnisse einer neuartigen Heilbehandlung muss in einer Form erfolgen, die der gebotenen Achtung vor dem Kranken und den Geboten der Menschlichkeit in jeder Weise Rechnung trägt.
12. Die Nummern 4 bis 11 dieser Richtlinien gelten entsprechend für wissenschaftliche Versuche (Nr. 3). Ausserdem gilt für solche Versuche folgendes :
a) Die Vornahme eines Versuchs ist bei fehlender Einwilligung unter allen Umständen unzulässig.
b) Jeder Versuch am Menschen ist zu verwerfen, der durch den Versuch am Tier ersetzt werden kann. Ein Versuch am Menschen darf erst vorgenommen werden, wenn zuvor alle Unterlagen beschafft worden sind, die zu seiner Klärung und Sicherung mit den der medizinischen Wissenschaft zur Verfügung stehenden biologischen Methoden des Laboratoriumsversuchs und des Tierexperiments gewonnen werden können. Unter diesen Voraussetzungen verbietet sich jedes grund- oder planlose Experimentieren am Menschenvon selbst.
c) Versuche an Kindern oder jugendlichen Personen unter achtzehn Jahren sind unstatthaft, wenn sie das Kind oder den Jugendlichen auch nur im geringsten gefährden.
d) Versuche an Sterbenden sind mit den Grundsätzen der ärztlichen Ethik unvereinbar und daher unzulässig.
13. Wenn man somit von der Ärzteschaft und insbesondere von den verantwortlichen Leitern der Krankenanstalten erwarten darf, dass sie sich von einem starken Verantwortungsgefühl gegen über den ihnen anvertrauten Kranken leiten lassen, so wird man doch auch bei ihnen diejenige Verantwortungsfreudigkeit nicht entbehren wollen, die auf neuen Wegen den Kranken Erleichterung, Besserung, Schutz oder Heilung zu schaffen sucht, wenn die bisher bekannten Mittel nach ihrer ärztlichen Überzeugung zu versagen drohen.
14. Schon im akademischen Unterricht soll bei jeder geeigneten Gelegenheit auf die besonderen Pflichten hingewiesen werden, die dem Arzte bei Vornahme einer neuen Heilbehandlung oder eines wissenschaftlichen Versuches sowie auch bei der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse obliegen.

 
unter Verwendung des Textes des Bezirkamtes Billingen; im Internet im Archivportal zu finden.
Die vom Ministerium im Reichsgesundheitsblatt (1931) 6(55):174-175 veröffentliche Version wurde (mit nur minimalen Modifikationen) auch im
Deutsche Medizinische Wochenschrift (1931) 57(12):509 und z.B. im Amtsblatt des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt (1931) 12:471 gedruckt.


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